Der Konflikt in Libyen scheint vor seinem Ende zu stehen. Die Hauptstadt Tripolis ist in Rebellenhand, der Kampf um Sirte, der Geburtsstadt Muammar al-Gaddafis sollte die letzte Entscheidung in diesem Volksaufstand sein. Die Stadt liegt etwa in der Mitte zwischen der Rebellenhochburg Bengasi und der Hauptstadt Tripolis. Damit ist sie strategisch ungemein wichtig, weshalb die Rebellen und die NATO auch den Einsatz von Senfgas durch die regimetreuen Truppen befürchten. Der Revolutionsführer hat es beim Aufkommen der Kämpfe heraufbeschworen: Er wird lieber sterben als aufgeben. Immer wieder während dieser blutigen Revolution wurde vonseiten der Regierung Gesprächsbereitschaft signalisiert, die Truppen des Diktators jedoch gingen mit noch nie dagewesener Grausamkeit vor: Vergewaltigungen, Ermordungen, Schändungen, Brandstiftungen und auch der Einsatz international verbotener Waffen - es wurden alle Register des Teufels gezogen. Über 50.000 Menschen werden nun den Untergang des Regimes und den Sieg der Rebellen nicht mehr erleben - sie mussten die Befreiung mit dem Leben bezahlen. Ein hoher Blutzoll. Muammar al-Gaddafi kam am 01. September 1969 durch einen unblutigen Militärputsch an die Macht. Er regierte Libyen bis 1979 als Staatsoberhaupt, danach als Revolutionsführer diktatorisch. Dabei baute er das Land zu einem der führenden Erdölexporteure auf. Dem Volk gab er Manna in Form von Infrastruktur und Schulbildung, die Einwohner allerdings beutete er gemeinsam mit seiner Familie und Getreuen bis zum letzten Dirham aus und investierte das Geld im Ausland (wie etwa beim italienischen Autohersteller Fiat) oder legte es in Auslandskonten auf die hohe Kante. Vor allem Schwarzafrika verehrte den Diktator als Heiligen. 2008 wurde er von über 200 Königen und Stammesfürsten zum "König der Könige Afrikas" erkoren. Dem Westen allerdings war er stets ein Dorn im Auge, da er den internationalen Terrorismus förderte und Ausbildungslager gewähren ließ. Wo sich Gaddafi nun aufhält ist ungewiss. Seine Familie hat großteils das Land verlassen - zuletzt eine seiner Frauen mit Tochter und zwei Söhnen in Richtung Algerien. Algier hat bislang die Übergangsregierung des Nachbarstaates nicht anerkannt. Die Großfamilie Gaddafi selbst ist gespalten. Während einige den Kampf bis zum bitteren Ende angekündigt haben, will etwa Sohn Al Saadi als Vermittler auftreten. Der Chef des nationalen Übergangsrates der Rebellen, Mustafa Abdul Dschalil hat einen fairen Prozess für Gaddafi angekündigt - wenn er sich stellt. Andernfalls drohen standrechtliche Erschießungen. Die Übergangsregierung unter Mahmud Dschibril versucht nun, in den mit tatkräftiger Hilfe der NATO eroberten Gebieten Ruhe einkehren zu lassen. Dabei allerdings haben Experten größte Befürchtungen, dass sie scheitern könnten. Schließlich ließ der Revolutionsführer keine Opposition aufkommen - damit fehlt den Rebellen das politische Handwerkszeug. Nach wie vor pflastern allerorts Leichen die Straßen. Für einen gläubigen Moslem undenkbar, muss doch der Verstorbene nach islamischem Ritus so rasch als möglich beerdigt werden. Die Krankenhäuser sind verwaist, die Infrastruktur nach wie vor nicht existent. Jetzt fehlen die Fachleute, die in den letzten Wochen fluchtartig das Land verlassen haben. So hat beispielsweise der Übergangsrat alle in Libyen geborenen Mediziner dazu aufgerufen, zurück zu kommen und im Land zu helfen. Einige Regionen haben weder Strom noch Trinkwasser. Lebensmittel und Medikamente fehlen, der Müll wird angezündet, damit keine Krankheiten aufkommen. Nun soll das zum größten Teil eingefrorene Vermögen auf den Auslandskonten Gaddafis die schlimmste Not lindern. Doch war es hauptsächlich eine Entscheidung, die den Westen grollen ließ: Der schwerkranke Attentäter von Lockerbie, den Gaddafi aufgenommen hatte, soll nicht ausgeliefert werden. Er wird wohl in Tripolis sterben. Und dennoch: Gefundene Geheimdokumente zeigen etwas Wahnwitziges auf! Jahrelang arbeiteten offenbar die Geheimdienste CIA aus den USA und MI-6 aus Großbritannien mit dem Regime des Despoten zusammen. Schlüsselfigur war dabei dessen Außenminister Mussa Kussa. Der MI-6 versorgte Tripolis mit Informationen zu Oppositionellen im Ausland, der CIA nutzte die Verhörmethoden der libyschen Kollegen. Auch der deutsche Bundes-Nachrichten-Dienst soll solche Beziehungen gepflegt haben. So steckte der Diktator immer mal wieder Meldungen über den internationalen Terrorismus zu. Überall stoßen derzeit Journalisten noch auf die grausamen Machenschaften des Regimes. So gingen Bilder um die Welt, die in einem Lagerhaus in der Hauptstadt gemacht worden sind. Offenbar hatten hier die Häscher Gaddafis Zivilisten eingesperrt. Als die Halle nicht mehr zu halten war, wurde sie angezündet. Auch berichtet die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, dass kurz vor dem Einmarsch der Rebellen noch willkürlich medizinisches Personal, Häftlinge aber auch Zivilisten wahllos hingerichtet wurden. 50.000 Gefangene sind nach wie vor spurlos verschwunden. In Krankenhäusern werden verwesende oder verkohlte Leichname entdeckt. Nun gelte es, die Bevölkerung wieder zu entwaffnen, betont die Übergangsregierung. Gleichzeitig sollen eine Polizei und eine nationale Armee aufgebaut werden, der Rebellen und ehemalige Sicherheitskräfte angehören werden. Nur jene werden herausgefiltert, an deren "Händen Blut klebt!". Welche Rolle künftig den Islamisten zukommen wird, kann derzeit noch nicht vorausgesagt werden. Nur sollen radikalen Elementen wie der al-Qaida kein Platz geschaffen werden. In Berlin führte Libyen zu einer Krise in der Koalition. Außenminister Guido Westerwelle (FDP) hatte damals gegen eine deutsche Beteiligung am NATO-Einsatz gestimmt. Inzwischen ist diese Entscheidung mehr als umstritten. So bezeichnet der ehemalige Außenminister Joschka Fischer (Bündnis 90/Grüne) den Rückzieher seines Nachfolgers im Nachrichtenmagazin "Spiegel" als "...vielleicht das größte außenpolitische Debakel seit der Gründung der Bundesrepublik". Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zollte dem NATO-Einsatz "tiefen Respekt" (Bild am Sonntag). Derzeit werde ein Einsatz von Bundeswehrsoldaten im Rahmen einer UN-Mission geprüft obgleich Dschalil vorerst westliche Soldaten oder Sicherheitskräfte abgelehnt hat. Politiker aller Couleurs, auch solche der FDP forderten bisweilen die Ablöse Westerwelles als Außenminister. Seine Haltung in der Libyen-Krise sei nicht statthaft. Der Außenminister selbst hat zuletzt ebenfalls den NATO-Einsatz gelobt. Dies sei genug, um auch weiterhin auf Westerwelle zu bauen, meinte FDP-Chef Philipp Rösler. Doch lag der Ungeliebte mit seiner Entscheidung offenbar gar nicht so falsch. Immer mehr kommen Bedenken über die völkerrechtliche Rechtfertigung dieser UN-Sicherheitsrats-Resolution 1973 auf. Außerdem hatten sich zuletzt in einer Umfrage des TNS Emnid-Institutes im Auftrag des Nachrichtenmagazins "Focus" 56 % der Befragten gegen ein Eingreifen der Bundeswehr zur Absicherung eines libyschen Friedens ausgesprochen, nur 37 % dafür. Befragt wurden 1.000 repräsentativ ausgewählte Personen. Der Kurs der Regierung geht jedoch stark in Richtung einer deutschen Beteiligung. So betonen der Parlamentarische Staatssekretär im Verteidigungsministerium, Christian Schmidt (CSU) und der Unions-Außenexperte Philipp Missfelder unisono gegenüber der Presseagentur dapd, dass Deutschland dieses Mal auf jeden Fall sein Scherflein beitragen müsse. Ulrich Stock |
TAM-Wochenblatt Ausgabe 25 KW 36 | 23.03.2012 |
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